Finnland hat die große Freude und das Privileg, Ehrengast der heute beginnenden Frankfurter Buchmesse zu sein. Wir freuen uns außerordentlich, heute hier mit Ihnen sein zu dürfen.
Wer sind wir Finnen eigentlich und was können wir dem internationalen Literaturpublikum bieten?
Finnland ist das Land, in dem die Frauen als die ersten der Welt volle politische Rechte erhielten, in dem die Redefreiheit in allen Statistiken zur Weltspitze gehört, dessen Schulsystem durch seine Spitzenergebnisse weltberühmt und in dem die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft erstklassig ist.
Finnland ist das Land, in dem der Speer weiter geworfen wird als anderswo und wo Bescheidenheit eine Tugend ist. Die Welt verbessern wir in der Sauna, indem wir uns gegenseitig mit Birkenquasten auf den Rücken schlagen, genauso gut, wie wenn wir in den städtischen Cafés bei Café Latte in den sozialen Medien surfen.
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Die finnische Literatur bietet intellektuelle Anregungen und emotionalen Trost. Sie ist eine spannungsgeladene sprachliche und narrative Komposition, bei der wir uns von Melancholie zur Ekstase, von Verzweiflung zu Allmachtsgefühlen, von einsamem Weinen zu gemeinsamem Lachen bewegen.
In unseren Büchern toben Väinämöinen ̶ der urzeit-alte Zauberwisser ̶ , Pohjan akka ̶ die böse Herrscherin des Nordlands ̶ , der Sohn des Donnergottes, sieben sich raufende Brüder sowie der Mumintroll und seine Freunde. Ein kleiner Junge gleitet im Binsenboot den großen Strom Nil entlang. Ein Mädchen reist mit dem Zug durch die Sowjetunion. Eine Kommissarin und Mutter klärt Mordmysterien in der Hauptstadtgegend auf und ein Dichter gesteht: „Die finnische Sprache ist für mich das Fenster und das Haus. Ich wohne in dieser Sprache. Sie ist meine Haut“.
Die finnische Literatur ist wie eine im Licht des Lagerfeuers erzählte Volkssage, die die Wangen zum Glühen und die Fantasie in Fahrt bringt. Sie ist historische Autobiographie, jedoch mit Fiktion durchsetzt. Sie ist eine messerscharfe und dennoch keine kalte Gegenwartsanalyse, bei der sowohl Familienmitglieder als auch Entscheidungsträger, Landsleute und Ausländer sowie die Vergangenheit und die Zukunft kritisch unter die Lupe genommen werden.
Kurz gesagt: Sie ist Finnland.Cool. Genauso wie unser Messeslogan das zusammenfasst.
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Die finnische Literatur ist jung. Noch bei der Gründung der Finnischen Literaturgesellschaft in den 1830er Jahren hatte unsere Sprache nicht einmal ein Wort für Literatur. Es wurden umschreibende Begriffe oder das schwedische Wort litteratur im Finnischen als literatuuri verwendet. Den finnischen Begriff kirjallisuus erfand Elias Lönnrot und dieser Terminus wurde im Gründungsprotokoll der Finnischen Literaturgesellschaft zum ersten Mal eingeführt.
Unsere Literatur ist also jung, aber sie zeigte sehr bald ihre Kraft. Die Literatur hat das Wesen des Finnischen geschaffen und genauso hat das Wesen des Finnischen die Literatur beeinflusst. Dies möchte ich durch einige Aspekte kurz beleuchten:
Der erste Aspekt betrifft den Anreiz für die finnische Bildung.
Im Jahre 1809 kam es zu einer Trennung von Schweden, und Finnland wurde ein autonomes Großfürstentum Russlands. Zu jener Zeit war Russland permissiv und in Finnland nahm das nationale Erwachen seinen Anfang. Der Fennomane AdoIf Ivar Arwidsson meinte „Schweden sind wir nicht mehr, Russen wollen wir nicht werden, lasst uns also Finnen sein“.
Und so wurden wir Finnen. Unser Nationalepos Kalevala entstand, dessen nationalromantischer Geist bei den Finnen den Wunsch nach Unabhängigkeit weckte.
Das erste belletristische Werk, Die sieben Brüder von Aleksis Kivi, erschien. Die Botschaft des Werkes war, die Bedeutung der Lese- und Schreibfähigkeit zu betonen, denn nur durch diese Fähigkeiten konnte das Individuum ein vollwertiges und eigenständiges Mitglied der Gemeinschaft werden. Ich möchte bei dieser Gelegenheit erwähnen, dass auf dieser Buchmesse eine ausgezeichnete Neuübersetzung dieses Werkes ins Deutsche veröffentlicht wird.
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Es entstand auch vieles andere, was wertvoll war und zur Allgemeinbildung der Bevölkerung beitrug.
Noch heute, beinahe 150 Jahre nach dem Erscheinen dieses Werkes, ist die Botschaft des Romans Die sieben Brüder weiterhin aktuell. Wir Finnen sind ein lesendes Volk. Etwa 80% der Bevölkerung lesen mindestens ein Buch pro Jahr und ein Drittel der Finnen liest mindestens ein Buch pro Monat. Bei der Lesefertigkeit gehören wir zur Weltspitze.
Unser Bibliothekswesen befriedigt effizient die Lesebedürfnisse. Finnen gehen durchschnittlich zehnmal jährlich in die Bibliothek und es werden etwa 70 Millionen Bücher ausgeliehen. Auf die Bevölkerung umgerechnet bedeutet das, dass jeder Finne ein Buch pro Monat ausleiht und sogar etwas mehr.
Vielleicht liefert dies die Antwort auf die Frage, die uns oft gestellt wird, wie wir denn unsere Zeit während der dunklen Winterabende verbringen und vielleicht findet sich hier auch die Erklärung für die guten Ergebnisse in den PISA-Studien.
Ein weiterer Aspekt ist mit der Internationalisierung verbunden:
Eine alte Redewendung lautet „Finnland ist eine Insel“. Wir galten als kleines abgelegenes Land, in dem die Entfernungen groß waren und die Besiedlung dünn. Die Literatur baute eine Brücke von dieser Insel zum Festland, sie öffnete die Tore zur Welt.
Die Literaturübersetzungen hatten eine bedeutende Rolle bei der Reise in die Welt. Die Bewegung des nationalen Erwachens begann es sogar als nationale Pflicht anzusehen, Belletristik ins Finnische zu übersetzen. Zunächst wurden die anderen nordischen Länder sowie Russland und Deutschland vertrauter. Die Übersetzer hatten eine Doppelrolle: Sie trugen zur Entwicklung unserer Hochsprache bei und waren oft auch dazu gezwungen.
Die finnischen Schriftsteller reisten in die Welt hinaus – entweder real oder fiktiv – und sie nahmen auch ihre Leser mit. „In Ägypten habe ich gelebt, obwohl ich dort nie war“ soll der Schriftsteller Mika Waltari gesagt haben, als er nach dem Ursprung seines Großromans Sinuhe der Ägypter gefragt wurde.
Dieses Beispiel unter vielen ähnlichen schildert, wie sich Buch für Buch den Lesern im hohen Norden die Welt erschloss. Zugleich zeigt sich das tiefe Wesen der Literatur. Von der „Insel“ konnte man weit reisen, ohne die Brücke je zu betreten; man konnte in Gegenden leben, die man nie besucht hatte.
Die Welt wiederum fand ihren Weg nach Finnland und zu unserer Literatur. Waltari brachte nicht nur Finnen nach Ägypten. Ein weiteres Beispiel aus fernen Zeiten mag Frans Emil Sillanpää sein, der den Literaturnobelpreis im Jahre 1939 erhielt. Nach dem Empfang des diesbezüglichen Telegramms teilte er mit: „Zutiefst bewegt danke ich für mein Land und für mich für die Ehre und bin gerne bereit, den Preis entgegenzunehmen“. ̶ Zu Beginn meiner Rede erwähnte ich ja die Bescheidenheit als Zug des finnischen Wesens.
Die Erfolge unserer Literatur der letzten Jahre zeigen, dass auch kleine Sprachräume internationale Stars hervorbringen können. Fegefeuer von Sofi Oksanen wurde 2010 ein neuer Bestseller unseres Literaturexports – Übersetzungsrechte für ihre Bücher wurden schnell für über vierzig Sprachen vergeben. Nach Oksanens Fegefeuer wurden auch Werke von Riikka Pulkkinen, Katja Kettu und Rosa Liksom an zahlreiche Länder verkauft und in viele Sprachen übersetzt. Diese Frauen sind nun die Wegbereiterinnen für andere finnische Autorinnen und Autoren.
So gehen wir nun mit Büchern unter dem Arm in alle Richtungen. Die Fantasie und die Gedanken haben keine Inseln, keine Brücken, keine Grenzen.
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Hieraus entsteht der letzte Aspekt: Die Literatur ist nicht nur finnisch und nicht nur deutsch, ihre Botschaft gehört keinem Land. Die Literatur hat ein gemeinsames Zuhause: den menschlichen Geist und seine Schöpfungen.
Ich habe mich gefragt, wie es wäre, wenn aus einem Buch, das ich gelesen habe, alle äußeren Merkmale entfernt wären. Damit man nicht wüsste, wer es geschrieben hat und nichts verraten würde, wann und wo sich die Erzählung ereignete. Es gäbe nur die bloße Erzählung über die Gedanken und Beziehungen der Menschen.
Was für ein Buch wäre das?
Es könnte genauso sein wie das, was die Hellenisten uns hinterlassen haben, wie Shakespeare dichtete oder wie ein chinesischer Kalligraph es schrieb. Es hätte von Marquez, Soyinka, Doctorow oder vom Drehbuchautor des jüngsten Erfolgsfilmes geschrieben werden können.
Es wäre die universelle Botschaft des menschlichen Geistes, denn so ähnlich waren wir uns im Grunde und sind wir uns immer noch ̶ in Liebe und Hass, in Neid und Mitgefühl, in Glück und Verlust, im Glauben und im Mangel daran.
Wurde denn schon alles geschrieben? Betrachten wir die Konflikte in der Welt – auch die kriegerischen – so haben wir noch vieles voneinander zu lernen. Die Literatur hat eine immense Bedeutung, um Verständnis dafür zu wecken, wie ähnlich sich der menschliche Geist in verschiedenen Kulturen ausdrückt. So kann nie zu viel geschrieben oder gelesen werden.